Das österreichische Gesundheitssystem für Anfänger

Oder „Über was man nicht lachen kann, das kann nicht heilig sein.“
Ich möchte den nicht ganz ernsthaften Versuch wagen, Ihnen das österreichische Gesundheitssystem zu erklären. Ich habe vor zwanzig Jahren mit meinem Medizinstudium begonnen und bin nun über eineinhalb Jahre praktischer Arzt in eigener Ordination. Zeit einmal es zu versuchen. Ich möchte mich aber nicht billig darüber lustig machen, als würde gar nichts funktionieren, aber mal ganz ehrlich unter uns, manchmal tut es gut. Und weil ich gleichzeitig „Vollstrecker“ und „Leidtragender“ des Gesundheitssystems bin, sehe ich mich dazu richtiggehend berufen. Sie auch?
Einführung in das österreichische Gesundheitssystem
Wie soll man also eine der kompliziertesten Erfindungen der Menschheit am besten erklären? Was haben Sie die nächsten drei Wochen vor?
Das mag zunächst eigenartig klingen, aber ich denke, ich fange am besten einmal damit an, warum es nicht vereinfacht werden kann.
Ich denke, es wird jede gute Initiative das Gesundheitssystem zu verändern und zu vereinfachen zuerst einmal am Datenschutz scheitern. Später dann an der Sorge, dass irgendwer zu kurz kommt. Schlussendlich weil zu viele mitmischen, vom Bundeskanzler bis zur Hauskatze meiner Nachbarin. Aber in Wahrheit daran, das ist meine beste Vermutung, dass alle Angst haben, dass wenn wir unser Gesundheitssystem besser, günstiger, effizienter, einfacher und durchschaubarer machen würden, es schlussendlich nur noch komplizierter wird. Das ist nun mal das Schicksal fast aller vor allem politischen Bestrebungen in diesem Land. Egal was man angreift, es wird komplizierter. Besser nichts angreifen.
Warum ist es so kompliziert geworden? Ich kann es noch nicht beweisen, aber ich glaube, weil wir Weltmeister sind, wenn schon niemals im Fußball, dann darin, Verordnungen, Abänderungen, Verschachtelungen, Ausnahmen, Intransparenz, Amtsgeheimnis, Kulanzlösungen und Sondervereinbarungen zu machen, die alle ineinander greifen. Garniert wird es dann damit, ob wir heute Lust daran haben uns daran zu halten, was wir tun sollten oder heute halt mal nicht. Oder besser noch, es zu delegieren, weil wir nicht ausschließen können, dass wir gar nicht zuständig sind.
Wissen Sie, es können 3 Pandemien gleichzeitig über uns hereinbrechen oder 8 Wirtschaftskrisen uns jahrelang in Geiselhaft nehmen. Nichts, aber nichts wird auch nur ansatzweise den verheerenden Effekt haben, wenn wir in unserem „besten Gesundheitssystem der Welt“ für 15 Minuten „Dienst nach Vorschrift“ machen würden. Nicht weil die Vorschriften so weltfremd wären, dass alles zum Erliegen käme. Da kann ich Sie beruhigen, so weit kann es nie kommen. Warum? Denn dazu müssten die Vorschriften, Regeln und Abläufe irgendwie klar sein. In dem Moment, wo wir ernsthaft Dienst nach Vorschrift machen wollen, könnten wir uns bis ans Ende der Menschheitsgeschichte damit beschäftigen, herauszufinden, was und wie und wo denn diese Vorschriften, Regeln und Abläufe denn sind. Wir werden Generationen um Generationen Verantwortliche und Zeitzeugen befragen, sie mit den Widersprüchen konfrontieren, in Kompetenzstreitigkeiten uns verlieren und nie herausfinden, wer was wann warum mit wem in Gang gesetzt hat. Wie Sie aus dem aktuellen Ibiza-Untersuchungsausschuss wissen, ist ja auch die Vergesslichkeit ein nicht zu unterschätzender Faktor. Diese wird den Schlussstrich ziehen. Wir würden es schlussendlich einfach aufgeben oder eben vergessen und weitermachen als wäre nichts gewesen.
Um ein aktuelles Beispiel dazu zu geben: Als Ärzte sind und waren wir natürlich in der ersten Corona-Welle sehr daran interessiert zu erfahren, wer unserer Patienten getestet wurde und natürlich wer positiv war. Nur wer wäre die Anlaufstelle dafür gewesen, denn mir als Ihrem Hausarzt wurde von offizieller Seite nichts weitergegeben? (War sicher der Datenschutz schuld, der böse) Doch schließlich wurde in den Medien verkündet, dass es doch jemanden gebe, dem die Ergebnisse zugetragen werden: dem Bürgermeister. Stellen Sie sich vor, am nächsten Tag hätten zehntausende Ärzte unseren geschätzten Bürgermeister Ludwig angerufen und um Auskunft gebeten? Ich glaube nicht nur, dass das Rathaus stillgestanden wäre oder ein juristischer Streit entfacht wäre, ob der arme Bürgermeister nichts mehr anderes tun haben darf als seinen Wiener Ärzten Auskunft über positive Coronafälle in ihren Ordinationen, am besten persönlich zu geben. Ich glaube, sie würden heute noch diskutieren, wie man denn eigentlich Auskunft geben soll und ob das per E-Mail möglich ist und dann mit der europäischen Menschenrechtscharta und dessen Gleichheitsgrundsatz, also E-Mail, Fax und Brief vereinbar wäre und ob da jetzt der Bund oder die Länder dafür zuständig sind, das näher zu klären. Oder doch die Krankenkassen oder die Ärztekammer. Nein sicher die Magistrate.
Ich bin einmal eine längere Zeit durch Indien und Nepal gereist. Eine wunderbare Erfahrung. Was mich dabei auch faszinierte und oft überforderte, war, dass mir alles dort so beliebig vorkam. Man steht an einer Bushaltestelle und wartete stundenlang und fragte dann mal die Passanten, wann denn der nächste Bus kommt. Jeder sagte mir zumeist etwas völlig anderes. Fahrpläne fand ich keine. Wann immer ich etwas kaufte, wurde jeder Preis einzeln ausgehandelt mit enormen Unterschieden zum Tag davor. Es war wie als würde in der Sekunde alles ausgewürfelt werden. Doch der persönliche Höhepunkt war ein Trekkingrunde um den Annapurna in Nepal: Wir hatten uns eine ehrgeizige, lange Wanderstrecke vorgenommen und unterwegs die Einheimischen gefragt, wie lange es noch bis zu einem bestimmten Ort ist. Wir erfuhren: „Vier Stunden“. Etliche Ortschaften später fragten wir wieder und wieder erfuhren wir: „Vier Stunden“. Was soll ich sagen, es ging den ganzen Tag so. Immer hörten wir:“ Vier Stunden“. Am Abend kamen wir schließlich völlig erschöpft, mit letzten Kräften in der Ortschaft an und fragten uns wie lange jetzt die Wanderung heute wirklich gedauert hat. Es war uns sofort klar: „Es müssen vier Stunden gewesen sein“. Wir waren damit akklimatisiert, aber nicht nur für Nepal.
Ich dachte mir in meiner Naivität, dass die Menschen in Indien und Nepal ziemlich verwirrend sein können und alles viel zu schwammig dort geregelt sei und dass das in Österreich besser und klarer funktioniere. Dann lernte ich das österreichische Gesundheitssystem kennen und wurde eines Besseren belehrt. Seitdem bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich Indien je verlassen habe. Andererseits könnte es auch sein, dass Nepal oder Indien eine Erfindung des österreichischen Gesundheitssystems sind. Sie verzeihen bitte, das war jetzt etwas übertrieben.
Jetzt haben Sie so viel lesen müssen, ganz groß habe ich Ihnen eine kompetente Erklärung angekündigt, endlich einer, der es uns sagen wird. Ich habe mit Worten herumgeworfen, Sie bis in den Himalaya entführt und jetzt wissen Sie immer noch nicht mehr über das österreichische Gesundheitssystem als davor. Verzeihen Sie mir bitte noch einmal, aber ich denke, ich hätte es nicht besser erklären können als so.
Willkommen im österreichischen Gesundheitssystem. Jetzt sind Sie bestens dafür gewappnet.
Und irgendwo, mittendrinnen Sie und
Ihr Hausarzt,